Lützeraths Geschenk
Klima – Der Newsletter für die, die es kapiert haben
Zwei, drei Mal wollte ich aus Lützerath schreiben und kam dann nicht ein Mal dazu.
Am Sonntag vor einer Woche eines der Häuser besetzt, zu fünft im Zimmer mit anderen Klimaschützer:innen Ohr an Ohr geschlafen. Bald 1500 Polizist:innen gegenüber gestanden, ihren Räumpanzern und ihren Bulldozern, die Räumung Lützeraths verzögert so gut es ging, später draußen auf der Straße gestanden, geweint, weil es so schnell und so brutal vor sich ging.
Daraufhin die RWE-Konzernzentrale blockiert, um klarzumachen, wer hinter der ganzen Scheiße steckt, und dann Samstag die Großdemo, der schönste Akt von Rache, an dem ich je teilgenommen hatte: Die Grünen sind der Klimabewegung in Lützerath in den Rücken gefallen. Vertrauen wurde gebrochen, und damit die wichtigste Vorbedingung für unser gesellschaftliches Zusammenleben verletzt.
Und all jene, die sich verraten fühlten, die wollten, dass die Kohle im Boden bleibt, sie kamen. Einen Schreiner habe ich gesprochen, eine Beamtin, mehrere Studentinnen - zehntausende liefen durch den Regen, durch die verschlammten Felder, durchbrachen Polizeiketten, um am Dorfrand Lützeraths schließlich klarzumachen: Wir wollen Klimagerechtigkeit, keine Ausreden. Die Emissionen müssen runter. Nicht irgendwann. Sondern jetzt. Ihr werdet die Rechnung nicht mehr ohne uns machen, sondern wir machen die Zukunft jetzt.
Und schaut man sich die Reaktionen der Habecks und Neubaurs gerade an, dann merkt man: Die haben das kapiert. Sie wissen jetzt, dass man sowas nicht mehr macht oder sonst den politischen Preis dafür zahlt.
Ich bin komplett durch und hatte noch keinen wirklichen Moment, um über all das in Ruhe nachzudenken. Aber eins habe ich in dieser Woche gelernt, und zwar, dass es möglich ist, etwas zu tun.
Klar:
Nur weil man Klimagerechtigkeit will, heißt das nicht, dass man sie auch bekommt.
Nur weil man für eine bessere Zukunft einsteht, heißt das nicht, dass sie auch Wirklichkeit wird.
Aber man kann für all das kämpfen, und dadurch wird das scheinbar Unmögliche plötzlich zur Möglichkeit – und das werde ich nicht vergessen, niemand, der in den vergangenen Tagen dabei war, wird das wieder vergessen.
Und das ist das Geschenk, das wir uns in Lützerath gemeinsam und gegenseitig gemacht haben. Ein Geschenk, das bleiben wird. Ein Geschenk, das wir erneuern können – jederzeit.
"Und schaut man sich die Reaktionen der Habecks und Neubaurs gerade an, dann merkt man: Die haben das kapiert. Sie wissen jetzt, dass man sowas nicht mehr macht oder sonst den politischen Preis dafür zahlt." - also ich muss sagen mich hat der ganze populistische Spin der Klimaliste und einiger Aktivist*innen eher abgeschreckt. Die Grünen haben sich nicht mit Ruhm bekleckert, aber den ganzen Protest am Ende gegen eine Partei zu framen ist einfach total daneben und schadet der Bewegung. Ich bin erschrocken wie bewusst oder unbewusst der demokratische Prozess, der Kontext der Entscheidung und vorallem die anderen beteiligten Parteien ausgeklammert werden und so getan wird, als könnten die Grünen in NRW (mit der CDU) und im BUND (mit Olaf und Crazy Christian) alleine regieren. Totaler Unsinn und wirklich, wirklich absolut populistisch. Populismus ist sinnvoll, wenn man Aufmerksamkeit erlangen will. Wenn man bereits Aufmerksamkeit hat, sollte man in der Lage sein eine umfangreichere und komplexere Lage zeichnen zu können. Greta und Luisa können das auch. Wo ist das Problem? Die Klimabewegung ist eine Bewegung die sich auf wissenschaftliche Fakten stützt, deshalb ist sie so erfolgreich. Wir sollten nicht in Populismus verfallen, nur weil wir emotional getroffen sind. Politik ist kein Kindergarten und Forderungen werden nicht zu 100% umgesetzt. Damit muss man umgehen können, wenn man in einer Demokratie lebt und daran partizipieren möchte. Auch als Klimaaktivist heiligt der Zweck nicht die Mittel.
Die Bundesregierung erhält etwa alle 2 Jahre umfassende "Sachstandsberichte" ihres Wissenschaftlichen Dienstes und ihres Sachverständigen- und Expertenrates. Das sind parteipolitisch unbelastete, völlig ungeschminkte, nüchtern-sachliche und wissenschaftlich fundierte Zusammenfassungen des Zustandes des ganzes Landes, von der Wasserqualität bis zur allgemeinen Befindlichkeit der Bevölkerung. Diese Sachstandsberichte umfassen jeweils mehrere hundert Seiten und wenn man sich mal die Mühe macht sie zu lesen, sieht man wie desaströs die langfristige Entwicklung verlief und wie wirklich die aufziehenden "Katastrophen mit Ansage" jahrzehntelang schlichtweg ignoriert wurden. Manche entbehren aber rückblickend nicht einer gewissen Komik.
Zitat aus dem SSB 1977:
21. Oberstes Ziel und erklärter Maßstab der deutschen
Umweltpolitik ist der Schutz der Würde des Menschen, die
Sicherung seiner Gesundheit und seines Wohlbefindens, die
zugleich Orientierungspunkt für die staatliche Politik
schlechthin sind. Zur Erreichung dieses Oberzieles bedarf
es einer Sicherung der Umweltgüter, eines Schutzes der Na-
turgrundlagen vor schädlichen Wirkungen menschlicher
Aktivitäten sowie der Beseitigung bereits vorhandener
Schäden. Der Langfristigkeit der umweltpolitischen Kon-
zeption entsprechend darf sich die Umweltpolitik nicht auf
die Sicherung der Umweltressourcen lediglich zugunsten der
derzeitigen Generation beschränken; Raum und Natur-
grundlagen dürfen in der Gegenwart nur insoweit in An-
spruch genommen werden, "daß auch kommende Genera-
tionen den größtmöglichen Nutzen haben werden"
Das war noch VOR dem Einzug von B90/Grüne ins Parlament! 46 Jahre später kann man nur noch mit einem überraschten "Ach?!"<Loriot> auf solche Statements reagieren.
Das "oberste Ziel der deutschen Politik" ist wohl irgendwie in Vergessenheit geraten und wurde voll verfehlt.
Auch schön: Eine Frage der Glaubwürdigkeit
„Wessen Information würde man am ehesten Glauben
schenken?" Angaben in v. H. der Befragten, Mehrfach-
nennungen möglich):
Sprechern der Industrie 3 %
Politikern 4 %
Städtischen Stellen 8 %
Landschaftsschützern 14 %
Ärzten 33 %
Wissenschaftlern 64 %
Sonstige, keine Angabe 17 %
Eine ähnliche Frage — ausgeweitet auf Umwelt-
schutz allgemein — brachte im Jahre 1977 eine
praktisch gleiche Rangordnung der Glaubwürdigkeit
von Quellen:
„Nehmen wir einmal an, Sie erhalten ... Informationen
über die Umweltfreundlichkeit oder Umweltfeindlichkeit
von Industrien oder Kernkraftwerken. Wessen Informa-
tion würden Sie am ehesten Glauben schenken?"
(Den Befragten wurde eine Liste mit acht Quellen zur
Auswahl vorgelegt; Mehrfachnennungen waren möglich;
Angaben in V. H. der Befragten.)
Sprechern der Elektrizitätswerke 6 %
Sprechern der Industriebetriebe 6 %
Politikern 10 %
Journalisten 11 %
Städtischen Stellen 15 %
Bürgerinitiativen 26 °/o
Ärzten 37 %
Wissenschaftlern 64 %
Sonstige, keine Angabe 11 %
(Quelle: INFAS 77 I)
Diese krassen Unterschiede sind nicht nur in Bezug
auf Umweltfragen zu beobachten; sie spiegeln für
einige Gruppen, z. B. Ärzte und Wissenschaftler,
deren allgemein hohes Ansehen. Die Vertreter der
Industrie gelten hier vermutlich als Partei und da-
mit wenig glaubwürdig. Umso bemerkenswerter ist
die geringe Glaubwürdigkeit der verantwortlichen
Personen („Städtische Stellen", „Politiker") in den
Augen der Bürger (vgl. 2.1.4.5). Im geringen An-
sehen der politischen Führung sind wohl auch man-
che der Schwierigkeiten bei der Konsensbildung
(s. 3.3.2 und 4.3) begründet.
46 Jahre später dürften die ohnehin grotesk niedrigen Glaubwürdigkeitswerte der Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft gegen Null abgesunken sein. Die "Schwierigkeiten bei der Konsensbildung" in der Gesellschaft ist prinzipbedingt, wenn man statt nach wissenschaftlichen Fakten immer nur nach politischen Absichten seiner jeweiligen Wählerklientel handelt, den Bürgern die Fakten schlichtweg verschweigt und Probleme, zu denen keine Lösung greifbar ist, einfach komplett ausblendet.
Bermerkenswert aber auch die niedrigen Glaubwürdigkeitswerte der Journalisten. In Zeiten, wo man sich die Fakten z.B. aus wissenschaftlichen Quellen oder Regierungsquellen einfach ergoogeln kann, rächt sich das bitterböse.